Das psychische Immunsystem - Schutzschild unserer Seele

  • Was ist für ein psychisches System notwendig? 

Unser psychisches System - man könnte auch das Wort „Seele“ benutzen - ist ein hoch entwickelter Set von bewussten und vor allem unbewussten Programmen und muss genauso wie unser Körper mit guten Sachen gefüttert werden. Die „Positive Psychologie“ erforscht genau das: Die Grundlagen und Voraussetzungen für das Wohlbefinden und Gleichgewicht der Seele. Wir haben gelernt, sehr auf unsere Nahrung zu achten, die Medien greifen jeden Frevel an unserer Nahrung auf, wenn zum Beispiel in Eiern Substanzen festgestellt werden, die da nicht hingehören, weiss es gleich die ganze Welt und niemand kauft die Eier mehr. Mit unserer hoch empfindsamen Seele gehen wir jedoch viel weniger achtsam und respektvoll um. Wir „füttern“ sie mit Gedanken und Gefühlen, die ihr nicht gut tun. Diese schädlichen Gedanken und Gefühle habe ich in meinem Buch „psychische Viren“ genannt, da sie sich in unserem Unbewussten festbeissen und da oft ein Leben lang ungeniert ihr Unwesen treiben.

  • Können Sie Ihr Konzept der „psychischen Viren“ ein bisschen genauer erläutern? Was greift da unser psychisches Immunsystem an und wie reagieren wir auf solche Angriffe?

"Psychische Viren" sind penetrante schädliche Gedanken und Gefühle, die sich in uns festgebissen haben und uns zum Grübeln bringen und handlungsunfähig machen. Sie sind sehr mächtige, oft auch selbstschädigende Programme, wir merken ihr Eindringen oft gar nicht, sind sie jedoch erst einmal drin, entfalten sie sich und kontrollieren uns. Klassischerweise beginnen sie mit „Du bist…“ gefolgt von einem negativen Eigenschaftswort und einer Verstärkung des Gesagten. „Du bist so chaotisch, du verlegst immer alles!“ Dieser scheinbar so harmlose Satz hat es in sich, es ist ein psychischer Virus par excellance: er legt die Empfängerin oder den Empfänger auf das Chaotisch-Sein fest und zementiert die Aussage mit dem „immer“ und „alles“ quasi zu einem Persönlichkeitsmerkmal. Der Virus kann sich entfalten und wird zur "selbsterfüllenden Prophezeiung“. Das ist die einfachste Form eines psychischen Virus, andere sind viel komplexer und subtiler. Wenn die Eltern beispielsweise dem Kind sagen: „Solange Du die Füsse unter meinen Tisch streckst, tust Du, was ich Dir sage!“ programmieren sie das Kind mit diesem psychischen Virus auf Unbeweglichkeit und Unterwürfigkeit. Dieser psychische Virus wird später im Leben möglicherweise eine gute und schnelle Entscheidungsfähigkeit verhindern. Er wird die Unsicherheit verstärken, selbständig und unabhängig zu werden. Um uns flirren viele solcher Viren durch die Luft, wir sind umgeben von „Du musst…“, „Du sollst…“ und „Du darfst nicht…“, im Idealfall lassen wir diese Festlegungen schnell hinter uns, aber manchmal beisst sich so ein Virus fest und wir „verinnerlichen“ ihn. Im schlimmsten Fall sind das Täterintrojekte, die Stimmen, Bilder oder Handlungen derer, die uns Böses getan haben und die wir nicht mehr loswerden. 

  • Was macht dann unser psychisches Immunsystem dabei?

Das psychische Immunsystem ist ein Set von Detektions-, Verteidigung- und Reparaturprogrammen, es detektiert die psychischen Viren, analysiert sie auf Schädlichkeit und neutralisiert sie. Bei schon erfolgtem Schaden versucht es diesen zu reparieren oder zu minimieren. Jemand, der emotionalen oder sexuellen Missbrauch oder Misshandlungen erlitten hat, wird sich nur schwer von diesen Viren befreien können, aber ein intaktes psychisches Immunsystem wird sich sofort an die Arbeit machen und die Erfahrung korrigieren. Als erstes müssen die schädlichen Viren, insbesondere die Emotionen, herausgelassen werden. Ein Gefühl, und sei es Angst oder Entsetzen, das einmal herausgelassen wurde, ist kein Unbekannter mehr und es kann sogar zu einem Freund werden. Die Angst, die mich davor warnt, wieder in eine so brenzlige Situation zu geraten, ist mein Freund. Ein Satz wie: „Ich mach dich fertig!“, der in uns nachhallt, ist viel schwieriger zu neutralisieren, er braucht die wiederholte Versicherung, es ist nicht mehr real, es ist vergangen und vorbei.

  • Warum haben manche ein starkes, andere ein schwaches Schutzschild?

Man kann jeden Menschen brechen, den man lange genug mürbe macht. Es ist wie mit dem Elefanten in der Geschichte von Jorge Bucay: er wurde als junger Elefant an einen dünnen Pflock gebunden, der gerade nur so stark war, dass der kleine Elefant sich nicht losreissen konnte. Der Elefant hatte diese Begrenzung verinnerlicht und versuchte auch als grosser und starker Elefant, der den Pflock mit Leichtigkeit hätte ausreissen können, gar nicht mehr, sich von dem Pflock zu befreien. So ist es auch mit den psychischen Viren: sind sie erst einmal aktiviert und wir erkennen sie nicht, versuchen wir gar nicht mehr, sie loszuwerden und bleiben dadurch schwach und unter unserem Potential. Erst die Erkenntnis dessen, was uns einschränkt, macht uns stark. Manchmal brauchen wir die kleineren oder grösseren Katastrophen unseres Lebens dafür. Es gibt kein unveränderliches schwaches oder starkes psychisches Immunsystem. Es muss stets trainiert und verbessert werden, wie das körperliche Immunsystem mit jeder Grippe trainiert und verbessert wird, manche lernen schon sehr früh, an den Widerfahrnissen des Lebens zu wachsen. So hat Natascha Kampusch, die über ihre ganze Jugendzeit in einem Kellerverlies gefangen gehalten wurde, sich in dieser Zeit nicht aufgegeben und ihr psychisches Immunsystem mit positiven Introjekten gestärkt, indem sie sich zum Beispiel vorstellte, was sie sich als Erwachsene in dieser Situation raten würde, wie sie in ihrem Buch „3096 Tage“ schreibt. Viktor Frankl hat sich in den von Hunger und Demütigungen geprägten Jahren des Konzentrationslagers nicht aufgegeben, sondern hat beobachtet und aufgeschrieben und sich die Zukunft vorgestellt und damit sein psychisches Immunsystem gestärkt. Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller hat ihre Erfahrungen mit der rumänischen Securitate aufgeschrieben, reflektiert und poetisch verarbeitet. Etwas Ähnliches erleben wir mit der #metoo-Debatte: die Öffentlichmachung und Anerkennung des geschehenen Unrechts ist der erste Schritt der Bewältigung. Der französische Resistencekämpfer und Mitbegründer der Universellen Erklärung der Menschenrechte Stéphane Hessel hat dagegen zwei „psychische Antiviren“ auf die kurze Formel gebracht: „Empört Euch!“ und „Engagiert Euch!“. Die amerikanische Verfassung hat das „Streben nach Glück“, ein Grundpfeiler des psychischen Immunsystems, sogar in die Verfassung aufgenommen als ein unantastbares Recht aller Menschen.

  • Können wir Glücksmomente speichern?

Glücksmomente sind sehr wichtig für unser psychisches Immunsystem, jedoch nicht im Sinne der Aneinanderreihung möglichst vieler glücklicher Momente, sondern als eine Haltung, dass jeder von uns mit vielen reichhaltigen Ressourcen, Stärken und Tugenden ausgestattet ist, die ein gutes, sinnvolles und im weitesten Sinne „glückliches“ Leben ermöglichen. Jedes Glücksmoment hat den Kern eines positiven Virus in sich. Wie wir eine Vielzahl von Darmbakterien als kleine Helfer unserer „Weltverdauung“ brauchen, so brauchen wir auch viele kleinen psychischen Helferlein, die uns wie ein freundlicher Kobold auf der Schulter sitzen und uns etwas Positives über uns einflüstern: "Du bist ok“, "Du bist gut, wie Du bist“, „Das hast Du gut gemacht!“.

  • Wie können wir unsere Seele stärken?

Wir gehen regelmässig zum Zahnarzt, um unsere Zähne reinigen und durchchecken zu lassen, aber was tun wir, um unsere Seele zu reinigen und zu pflegen? Wir betreiben mehr oder weniger aufwändige Zahnpflege mit zweimal täglich Zähneputzen, benutzen Zahnseide und Mundspülung, aber was tun wir für unsere tägliche Psychohygiene? Nicht viel und oft nicht bewusst und nicht genug. Es empfiehlt sich, am Ende des Tages für einen kurzen Moment innezuhalten, die Augen zu schliessen und sich zu überlegen, für welche drei Dinge des Tages kann ich heute dankbar sein? Man kann für vieles dankbar sein, für den Vogelgesang am Morgen, für den Sonnenschein, den man erleben durfte, für ein Lächeln, dass einem jemand auf der Strasse geschenkt hat, für ein freundliches Wort eines Arbeitskollegen, für den kleinen Flirt an der Kaffeemaschine, für eine wertvolle Einsicht oder einen guten Artikel in einer Zeitschrift. Ebenso empfiehlt es sich, weiter zu überlegen, welche drei meiner Stärken kamen heute gut zur Geltung? Konnte ich heute gut Nein sagen? Konnte ich meine fachliche Kompetenz ausleben? Konnte ich meine emotionale und soziale Kompetenz gut an den Mann bringen? Und dann wäre zu überlegen, welche drei Ressourcen habe ich, konnte sie aber heute nicht gut entfalten? Wenn ich sehr gut strukturiert bin, selbstbewusst und direkt, konnte ich das heute gut ausleben? Das psychische System verlangt ebenso wie das körperliche nach einer gewissen Pflege und realisiert eine automatische Immunisierung bei kleineren Ereignissen, die uns aus der Bahn werfen. Bei schwerwiegenden und wiederholten Widerfahrnissen bleibt uns nur, diese Ereignisse an die Oberfläche zu holen, herauszulassen und einen guten Umgang damit finden, respektvoll und achtsam mit unserer Seele umzugehen und positive Antiviren zu schaffen.

  • Wir lesen in den Medien so viele Tipps gegen Erkältung, Grippe und Co. Warum wird das psychische System so vernachlässigt?

Wir sind in der Geschichte der Menschwerdung erst in den letzten paar tausend Jahren so weit gekommen, dass wir ein Bewusstsein von uns selbst entwickelten. Und ganz neu ist das Verständnis unseres psychischen Systems durch die Entwicklungen der Psychologie im letzten Jahrhundert. Es ist, wie wenn ein wildes Tier sich plötzlich nicht mehr nur für Nahrung und Sex interessiert, sondern ein Bewusstsein seiner inneren Vorgänge kriegt und diese verstehen möchte. Bevor die Rolle der Hygiene in der Medizin entdeckt wurde, hat man Zähne auf dem Marktplatz gezogen und Glieder auf dem Esstisch amputiert, man wusste nichts von Viren und Bakterien, also konnte man sie auch nicht bekämpfen. Ähnlich ist es mit dem psychischen Immunsystem: es kann seine Funktion nur erfüllen, wenn es die „psychischen Viren“ kennt. Eine Depression ist durchaus einer „psychischen Erkältung“ vergleichbar: die psychische Immunabwehr ist geschwächt, die psychischen Kräfte ziehen sich zurück. Die Bewusstmachung dieser Zusammenhänge ist noch relativ neu und die Krankenkassen und das Gesundheitssystem hinken diesen Einsichten hinterher, obwohl es sehr deutliche Studien gibt, dass wenige psychotherapeutische Konsultationen oft schon eine grosse präventive Wirkung entfalten. Unsere Gesellschaft frönt eher einem Reparaturdenken: es muss erst mal richtig böse kommen und der erste Suizidversuch oder Amoklauf muss stattgefunden haben (ich übertreibe jetzt ein bisschen ;-), bis eine Psychotherapie genehmigt wird. In der Schweiz hinkt diese Entwicklung der in Deutschland noch weit hinterher, viele müssen hier eine Psychotherapie noch selbst bezahlen und die Politik zeigt null Verständnis für diese Zusammenhänge, obwohl dadurch viele Erkrankungen aufgefangen werden könnten, bevor sie überhaupt auftreten und damit aufs Ganze gesehen sogar Kosten gespart werden würden.

  • Wenn ich mich in einer Katastrophe oder schweren Krise befinde, was kann ich tun, um da rauszukommen? Schaff ich das allein?

Es kommt drauf an, wie früh die Katastrophe stattfindet. Wenn Sie als Kleinstkind sexuell missbraucht oder lebensbedrohlich vernachlässigt oder verletzt wurden, haben Sie kaum Schutzmechanismen, Ihr psychisches Immunsystem ist noch naiv, ungelernt, es kann diese bedrohlichen Erlebnisse nur in ein Paket stecken und wegpacken, die Leiche wird sozusagen im Keller begraben. Diese Ereignisse sind so schwerwiegend, dass Sie nur mithilfe von jahre- oder jahrzehntelanger Psychotherapie weiterkommen. Der Versuch, es allein zu schaffen, in Ehren, aber ohne massgebliche therapeutische Impulse wird es ein sehr mühsamer Weg, man bedenke nur das Kaspar-Hauser-Phänomen, ein Junge, der als Kind weggesperrt und massiv vernachlässigt wurde, oder die vernachlässigten Kinder aus dem rumänischen Cighid aus der Zeit der Ceausescu-Diktatur, die nach der Wende 1989 nur sehr schwer den Weg zurück ins Leben fanden, einige gar nicht, andere nur mit Hilfe einer guten Betreuung. Je älter und erwachsener Sie werden, desto mehr bauen Sie Ihre psychischen Schutzmechanismen auf, das psychische Immunsystem lernt, sich zu schützen. Wenn Sie quasi-erwachsen die erste Trennung erleben, werden sie noch Rotz und Wasser heulen und wochenlang nicht schlafen können, nach der 5. Trennung werden Sie sich sagen: „so what?“, „was soll’s, so ist das Leben“, genauso beim ersten Jobverlust oder anderen Rückschlägen. Beim Verlust von sehr nahestehenden Personen oder bei lebensbedrohlichen Erkrankungen wird es schwieriger, die traumatische Schwere dieser Ereignisse erdrückt uns, wir kreisen zu sehr in unseren Emotionen und kommen nicht daraus heraus, wenn wir uns nicht Hilfe von aussen holen. Dabei muss es nicht zwangsläufig eine Psychotherapie sein, eine erfahrene Freundin oder ein weiser Freund, die gut zuhören können, können einem schon viel von dieser emotionalen Last abnehmen. Wichtig ist, dass wir uns nicht verkriechen, sondern Vertrauen wagen und offensiv auf unsere Ängste, Trauer, Wut oder sogar  unseren Hass zugehen und ein Ventil öffnen. Wichtig ist, zu erkennen, wo ich mit meinem eigenen Denken nicht mehr weiterkomme und mich zu sehr im Kreis drehe und wo ich dann gerne Hilfe in Anspruch nehmen darf. Bei einer Lungenentzündung überlege ich auch nicht mehr, ob ich wirklich zum Arzt muss, es ist sternenklar, dass es sein muss. Wenn sich die Seele „entzündet“, muss ich zum Psychotherapeuten, das sollte auch klar sein.

  • Woher wissen Menschen, wie sie sich helfen können, ohne zu brechen (etwa Natascha Kampusch)? Oder passiert das automatisch?

Wenn die frühkindliche Entwicklung in einem geschützten, vertrauens- und liebevollen Umfeld stattfindet und ein sicherer Bindungsstil mit viel Selbstbewusstsein und Resilienz aufgebaut wird, sind wir gegen viele Widerfahrnisse gewappnet, der Schutzschild baut sich automatisch auf, wir schützen uns reflexartig oder probieren die verschiedensten Überlebensmodi aus, bis wir finden, was wir brauchen. Doch das ist sehr häufig leider nicht der Fall, sehr viele Blumen werden schon sehr früh geknickt. Eine Patientin hat mal das Bild gebraucht, dass sie sich wie eine Katze fühlt, der man den Schwanz gebrochen hat und die seitdem mit einem geknickten Schwanz herumläuft, die Integrität ihres Schwanzes ist jedoch für die Kommunikation einer Katze essentiell, sie wird deswegen häufig missverstanden, da sie anders kommuniziert, ein sanftes Wedeln kommt als ein abgehacktes Fuchteln an. Je mehr (verbrecherische) brechende Ereignisse jemand erlebt hat, desto weniger Schutz kann diese Person selbst aufbauen. Das psychische Immunsystem, der Schutzschild unserer Seele, muss auf allen Ebenen mit bewusster Anstrengung aufgebaut und gestärkt werden. Dazu gehört etwa, sich seiner Ressourcen bewusst werden, wo liegen die Stärken und Kraftquellen? Ebenso gehört eine Haltung dazu, die Ereignisse des Lebens als sinnvoll und handhabbar und als Herausforderungen, die bewältigter sind, zu sehen. Einen Geist des Fragens, des Staunens und Entdeckens wieder zu erlernen, seinem Bauch zu vertrauen und Stress als einen nötigen Stolperstein zu sehen, um in die Höhe zu fliegen und sein eigener Stressexperte zu werden. Und fällst Du dann doch, stehst Du wieder auf, richtest Dir die Krone und weiter geht’s!

 

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